Die Traurigkeit
von Heinz Körner
Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl
schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den frischen
Glanz eines unbekümmerten Mädchens.
Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte
nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast
körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen.
Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: Wer bist du?
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. Ich? Ich bin die Traurigkeit,
flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.
Ach, die Traurigkeit! rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte
Bekannte begrüßen.
Du kennst mich? fragte die Traurigkeit misstrauisch.
Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges
begleitet.
Ja, aber..., argwöhnte die Traurigkeit, warum flüchtest du dann nicht vor mir?
Hast du denn keine Angst?
Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu
gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum
siehst du so mutlos aus?
Ich... ich bin traurig, antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.
Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. Traurig bist du also, sagte sie und
nickte verständnisvoll mit dem Kopf.
Erzähl mir doch, was dich so bedrückt.
Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen?
Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. Ach, weißt du, begann sie zögernd
und äußerst verwundert, es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal
meine Bestimmung, unter den Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei
ihnen zu
verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich
vor mir und meiden mich wie die Pest.
Die Traurigkeit schluckte schwer. Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich
bannen wollen. Sie sagen:
Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu
Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen:
Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man
muss sich nur
zusammenreißen. Und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie
sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre
Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und
Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen.
Oh ja, bestätigte die alte Frau, solche Menschen sind mir schon oft
begegnet.
Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. Und dabei will ich
den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich
selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um
ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut.
Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut
sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint,
kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich
ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre
Narben.
Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu. Die Traurigkeit
schwieg.
Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt.
Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme.
Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das
zitternde Bündel. Weine nur, Traurigkeit, flüsterte sie liebevoll,
ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht
mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht
noch mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die
Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt.
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete
erstaunt ihre neue Gefährtin: Aber...
aber- wer bist eigentlich du?
Ich? sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so
unbekümmert wie ein kleines Mädchen. Ich bin die Hoffnung.
Mit
freundlicher Genehmigung von
Annika Framke
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